Der Alphornbläser!
Die Sehnsucht nach den geliebten Bergen führt uns nach Tirol. Unser Ziel ist Seefeld, ein Ort zwischen Bergmassiven und doch nicht im Tal, und der mittendrin liegt zwischen Karwendel und Wettersteingebirge. Eigentlich ein Platz, der mehr für Winterfreuden berühmt ist. Doch wir zwei wollen die bunte Vielfalt der Almen genießen und kommen zu Sommerbeginn. Bei Ankunft Mitte Juni reiben wir uns die Augen: Hier stehen die Kastanien an den Straßenrändern, die Fliederbüsche und die Maiglöckchen in den Gärten in voller Blüte. Die waren zu Hause im Vogtland, einer sächsischen Mittelgebirgsregion, seit Wochen verblüht. Unser Domizil in Seefeld ist eine Frühstückspension mit Familientradition, zentral und doch ruhig gelegen, mit architektonischer Kreativität modern geprägt. Der besondere Pfiff: Jeder Raum ist mit wunderschönen Aquarellen zu modischem Charme ergänzt. Der Künstler: Ein Sohn des Hauses. Die mit Panoramascheiben verglaste Lounge lädt auf gemütliche Sitzmöbel zur beschaulichen Rundsicht ein; das Fernglas liegt griffbereit für den Gipfelblick. Auf der Alpenblumenwiese am Steilhang des Grundstücks bleiben blühende Mohn- und Margeriteninseln von der Sense verschont. Bis zum Verblühen, wie man uns verspricht.
Das Frühstück am Morgen nach der Anreise ist perfekt. Es enthält alles, was man so am Morgen braucht. Das Ei gibt es nach Wunsch hart- oder weichgekocht, gerührt oder gespiegelt. Wir kommen mit einem Schweizer Ehepaar vom Nachbartisch ins Gespräch. Etwa unser Alter, ruhige, bescheidene Leute aus dem Aargau. Small Talk von Tisch zu Tisch. Jeder hat seine eigenen Tagespläne und die sind unterschiedlich. Noch ahnen wir nicht, wo wir uns noch zufällig begegnen werden.
Täglich neue Ziele: Wanderung auf den Gschwandtkopf und zur Brettljause auf der Sonnenalm, das barocke Seekirchl, mit der Bergbahn hoch zur Rosshütte, das Naturrefugium Wildsee – und dann der Ort selbst: Ein Bahnhof, so modern, wie man ihn nicht erwartet; über der belebten Fussgängerzone die Silhuette eines aus Lichterketten geformten Skispringers, zwischen zwei Gebäuden vor dem Himmel schwebend; gemütliche Cafes und einladende Restaurants. Wir lassen uns in einem solchen unter der Markise zum Abendessen nieder. Die Straße ist voller flanierender Touristen und zahlreicher junger Leute. Der Abend ist sommerlich warm, die Atmosphäre heiter und gelassen. Während wir, uns gegenüber sitzend, auf die Bedienung warten, wird meine Frau stutzig. Auf dem podestartig erhöhten Trottoir etwa zwanzig Meter hinter mir an der Straße packt ein Mann aus einem braunen Etui Teile eines Musikinstruments aus und setzt sie zusammen. Ein paar probende Töne, unerwartet in ihrer Tiefe und Kraft und vor allem in dieser Umgebung. Dann setzt eine wohlklingende, schwebende Melodie ein, die aufhorchen lässt, erzeugt von einem Alphorn. Doch Moment mal: Ist das nicht der Herr K. von unserem Nachbartisch der Pension ? Ja, wirklich, auf dem gegenüberliegenden Gehsteig unter einer Linde entdecken wir seine Frau, die ihren Mann nicht aus den Augen lässt. Da haben wir die Urlaubsüberraschung: Unser Tischnachbar – ein Alphornbläser. Ein Konzert ohne Ankündigung, ohne Werbung. (Schließlich hat man das örtliche Kulturprogramm gelesen.) Überrascht sind offensichtlich auch die Passanten. Viele bleiben stehen, meist in respektvollem Abstand zum Musikanten, lauschen den getragenen Klängen des gewaltigen Instruments und spenden nach jedem Musikstück anerkennend und voller Achtung Beifall für den Künstler.
Am Konzertende zerlegt Herr K. sein Instrument und verpackt es im Etui. Er kommt mit seiner Frau an unserem Tisch unter der Markise vorbei, sieht uns sitzen. Wir erheben uns, machen aus unserer Überraschung und Anerkennung kein Hehl, schütteln ihm die Hand und bedanken uns für das gelungene, unerwartete Abendkonzert. Er reagiert bescheiden und auch seine Frau schwächt etwas ab: „Da waren heute schon ein paar unklare Töne dabei.“ Unserer Bewunderung tut das keinen Abbruch, hatten wir doch nichts davon bemerkt. Wir setzen unser Abendessen fort. Das Paar geht zum Dorfplatz an der Kirche, wo ein weiterer Auftritt vorgesehen ist.
Im Frühstücksraum am nächsten Morgen wird es turbulent. Unser Bericht über Herrn K.s musikalischen Auftritt erregt Aufsehen. Die Pensionswirtin wundert sich, dass ihr noch nichts davon zu Ohren gekommen ist. Eine junge Dame aus Oberfranken erzählt, dass sie Oboe und ihre mitgereiste Tochter Fagott spielt. Beide fachsimpeln mit dem Musikerkollegen über Atemtechnik und Lippenansatz am Instrument. Dann aber ergänzt der Alphornist aus der Schweiz unsere Schilderung des Vorabends mit der folgenden Episode: Während einer kleinen Pause bei seinem Spiel auf dem Dorfplatz kam ein kleines Mädchen auf ihn zu und wollte ihm fünf Euro geben. Das lehnte er ab und sagte dem Kind, dass er nicht zum Geldverdienen spiele, sondern weil es ihmSpaß mache. Das Kind war enttäuscht. Da kam die Mutter nach vorn und erklärte, sie habe ihre Tochter so erzogen, dass man spenden soll, wenn jemand etwas vorträgt oder -spielt, woran man als Zuschauer Freude empfindet und bat ihn, das Geld zu nehmen. Um die erzieherische Autorität der Mutter nicht zu gefährden, nahm er den Schein. Nach seinem letzten Stück aber winkte er das Kind zu sich, drückte ihm die fünf Euro in die Hand und sagte: „Ich habe von Dir vorhin Geld bekommen. Du hast mir sehr aufmerksam zugehört. Dafür bekommst Du jetzt von mir etwas für ein schönes Eis“.
Gäste und Pensionsfamilie werden nachdenklich. Doch sie sind sich schnell einig: Ein kleines Konzert vor dem Haus muss sein. Und am Vorabend seiner Abreise holt der Schweizer tatsächlich sein stattliches Instrument aus dem Auto und setzt es zusammen. Kein Wunder, dass sich bei der abendlichen Stille am Kirchwald noch andere Zuschauer einfinden, von den getragenen Alphornklängen angelockt. Nachbarn und Bewohner des Hauses hören andächtig zu und sind beeindruckt. Kinder sind auch dabei. Der Schweizer ermuntert sie, selbst einmal ins Instrument zu blasen. Was dabei rauskommt, ist nichts für empfindliche Ohren. Dennoch gibt es Beifall auch für sie, und die Kinder sind mächtig stolz, urige Töne in den Sommerabend geblasen zu haben.
Hinter uns liegen erlebnisreiche Tage mit vielen positiven Eindrücken und einer bemerkenswerten Episode. Ob wir wiederkommen? Aber sicher, wenn es unsere Gesundheit noch erlaubt…
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Volkhard Schulze
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Ein herzliches Dankeschön an Herrn Volkhard Schulze für die Erlaubnis sein niedergeschriebenes Erlebnis auf unserer Webseite veröffentlichen zu dürfen!